Kolonialismus: Die großen Kolonialreiche

Kolonialismus: Die großen Kolonialreiche
Kolonialismus: Die großen Kolonialreiche
 
Unter weltgeschichtlichen Gesichtspunkten erreichte die koloniale Welt in der Zwischenkriegszeit ihre größte Ausdehnung. Die europäischen Kolonialmächte verfolgten eine Politik der intensiven Nutzung ihrer Überseegebiete. Im Einklang mit der systematischen Konsolidierung der jeweiligen Kolonialverwaltungen entfalteten sich auch die kolonialen Exportwirtschaften. Gleichzeitig zielte der einheimische Nationalismus, der sich in den einzelnen Kolonien unterschiedlich entwickelte, auf die Beseitigung der Kolonialherrschaft. Pate standen dabei Woodrow Wilsons Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker, die Kolonialdoktrin der Dritten Internationale und das Mandatssystem des Völkerbunds.
 
 Direkte oder indirekte Kolonialverwaltung
 
Das seinen Rivalen bei weitem überlegene formelle Weltreich Großbritanniens, das British Empire, umfasste neben den Dominions und Indien die halb unabhängigen Staaten Ägypten und Irak sowie das eigentliche Kolonialreich (Dependent Empire). Hierbei handelte es sich bei aller Vielfalt des Rechtsstatus der Kolonien und der Zuständigkeiten des Mutterlandes faktisch um Kronkolonien und Protektorate einschließlich der Mandate. Das französische Kolonialreich, das Empire français, wies eine ähnliche Vielfalt auf. Während für die Protektorate Tunesien und Marokko und die Mandate das Außenministerium zuständig war, Algerien als Teil des nationalen Territoriums betrachtet und folglich in Départements aufgeteilt wurde, unterstanden die Kolonien, gemäß der straffen Zentralisierung Bestandteile der einen und unteilbaren Republik, dem Kompetenzbereich des Kolonialministeriums. Im Unterschied zur britischen Herrschaftspraxis organisierten die Franzosen riesige zentralisierte Länderblöcke unter der Leitung von Generalgouverneuren: die Indochinesische Union, Französisch-Westafrika und Französisch-Äquatorialafrika. Mit einer meist drei- bis vierstufigen Hierarchie von weißen Beamten wiesen die Kolonialverwaltungen der in Afrika vertretenen Mächte, zu denen auch Belgien und Portugal gehörten, ein sehr ähnliches Organisationsschema auf.
 
Briten wie Franzosen bekannten sich nach dem Ersten Weltkrieg zur Idee der Treuhandschaft. Als Idealtypen standen sich die französische Doktrin der Assimilation und Assoziierung und die britische »indirekte Herrschaft« gegenüber. Die von den Erben der Französischen Revolution idealisierte Assimilation zielte darauf ab, die Kolonien mittels einer einheitlichen Gesetzgebung als gleichrangige Bestandteile in das Mutterland zu integrieren. Unter egalitären Vorzeichen sollte die einheimische Bevölkerung nach Sprache, Erziehung und Kultur wie nach Kleidung, Verhalten, politischer Mentalität und politischen Rechten zu Franzosen erzogen werden. In den 1920er-Jahren favorisierte die koloniale Intelligenz die Doktrin der Assoziierung mit der Forderung, vorgefundene einheimische Institutionen, soziale Formationen, Sitten und Gebräuche zu erhalten.
 
Reale Autoritätsstrukturen
 
Großbritannien hatte gegenüber indischen Fürstentümern und in Malaya auf direkte Verwaltung verzichtet, sich mit Residenten begnügt und die bestehenden Herrschaftsstrukturen anerkannt. In der Zwischenkriegszeit wurde diese »indirekte Herrschaft« vor allem in Nigeria, aber auch in anderen Teilen Westafrikas sowie in Uganda und im Sudan praktiziert. Als konservative Herrschaftsmethode mit teilweise liberalem, positivem Ansatz stand sie im Einklang mit der Idee der Treuhandschaft und der ideologischen Rechtfertigung der Kolonialherrschaft durch eine Perspektive des self- government, der Selbstregierung. Damals kamen auf 10 Millionen Einwohner nur 250 britische Verwaltungsbeamte. Aber trotz der Maxime, möglichst wenig einzugreifen, beseitigten britische Residenten in den islamischen Fulbestaaten Nordnigerias die autokratische Macht der Emire. In den komplexen Gesellschaftsformationen der Yoruba in Südwestnigeria und der Ibo in Südostnigeria verschleierte die Ernennung von Häuptlingen durch die Briten ähnlich wie in Ostafrika eine direkte Verwaltungspraxis. Und als die Kolonialmacht in der Zwischenkriegszeit vor dem Hintergrund der einsetzenden Emanzipationsbewegungen bei der alten Elite »Kollaborateure« fand, entpuppte sich die »indirekte Herrschaft« zusehends als Verschleierung realer Autoritätsstrukturen sowie als koloniale Stabilisierungsideologie mit dem Ziel, die neue Elite der westlich geschulten, aus den Städten stammenden Afrikaner zu neutralisieren. In Kenia wie in Zentralafrika unterstützte die Kolonialverwaltung die von weißen Siedlern (gentlemen farmers) betriebene kapitalistische Landwirtschaft. Die Großagrarier bewirtschafteten in Kenia im Durchschnitt 150 Hektar im »weißen Hochland« und erzeugten unter Ausbeutung afrikanischer Arbeitskräfte Kaffee, Sisal, Tee und Mais. Die britische Regierung räumte den weißen Siedlern Südrhodesiens (heute Simbabwe) 1923 Selbstregierung ein, wahrte allerdings in außen- und geldpolitischen Angelegenheiten ihre feste Kontrolle.
 
Frankreich setzte zur effektiven Verwaltung des gesamten indochinesischen Kolonialreiches von Hanoi aus 5000 französische Kolonialbeamte ein. Der Bevölkerung vor Ort blieb lediglich die Ausübung von Hilfsdiensten gestattet. Während in Vietnam das Kaisertum seine politische Autorität und sein Sozialprestige einbüßte, blieb die Monarchie in Kambodscha und Laos als reale politische Kraft, die mit der Kolonialmacht zusammenarbeitete, bestehen.
 
Auf dem Boden der Assimilationsdoktrin gelang es in den französischen Kolonien nur einer winzigen Elite, durch Erwerb einer französischen Schulbildung und Übernahme der französischen Kultur als »Assimilierte« zu Bürgern (citoyens) der Republik zu werden; in Westafrika betrug die Zahl dieser Kulturfranzosen 1939 lediglich 0,5 Prozent. Der Erwerb des Vollbürgerrechts bedeutete in Französisch-Afrika häufig die Abwendung vom Islam. Die Masse der Untertanen (sujets) blieb vom politischen Leben ausgeschlossen und unterlag einem niedrigeren Rechtsstatus (indigénat). Im Zeichen eines überspitzten Verständnisses von »indirekter Herrschaft« unternahmen die Briten bis 1940 nur sehr geringe Anstrengungen, gebildeten Afrikanern Zugang zu den Spitzenpositionen der Verwaltung zu ermöglichen. Wie die Franzosen verzichteten sie vorerst auch nicht auf das Instrument der Zwangsarbeit, vor allem beim Eisenbahnbau. Für beide Kolonialreiche galt der Grundsatz, die finanziellen Anforderungen an das Mutterland so gering wie möglich zu halten.
 
 Koloniale Wirtschaftspolitik
 
Als Schlüsselbegriff für die koloniale Wirtschaftsgeschichte der Zwischenkriegszeit kann die von der französischen Kolonialtheorie entwickelte »Inwertsetzung« (mise en valeur) gelten. Bis 1929 entwickelte sich das Kolonialreich zum wichtigsten Handelspartner Frankreichs. Die Ausfuhren dorthin wurden primär getragen von traditionellen, international kaum konkurrenzfähigen Industriesektoren wie der Textil- und der Schwerindustrie. Gleichzeitig fungierten die Kolonialgebiete als wichtigste Lieferanten von Kakao, Kaffee und Bananen, konnten jedoch bei wichtigen Rohstoffen wie Baumwolle und Wolle nur zwei bzw. acht Prozent der Importe bereitstellen. Im internationalen Kontext der sich Ende der Zwanzigerjahre abzeichnenden Depression verfolgte Frankreich eine Autarkiestrategie. Die Weltwirtschaftskrise führte über die Zollpolitik eine stärkere Bindung der Kolonien an die Mutterländer herbei. In der Rezession diente das französische Kolonialreich als Zufluchtsort für erschlaffende Sektoren der Industrie. Nicht nur in Indochina setzte die Krise eine Konzentrationswelle in Gang. Die Indochina-Bank hatte bis zu jenem Zeitpunkt äußerst vorsichtig operiert und ihre Kreditpolitik auf große Handelsgesellschaften des Mutterlandes sowie den von Chinesen kontrollierten indochinesischen Großhandel zulasten der vietnamesischen Bauern konzentriert; im Verlauf der Krise verwandelte sich diese Bank in eine »Mischgesellschaft«, die sowohl den Handelskredit als auch Finanz- und Industrieangelegenheiten monopolisierte.
 
Sowohl in Indochina als auch in Schwarzafrika wurden Mitte der 1930er-Jahre zaghafte Versuche unternommen, zugunsten der Bauern Agrar- und Hypothekenkredite zu organisieren. Das imperiale Präferenzsystem zwang Frankreich, einen wachsenden Teil seines Bedarfs, zum Beispiel an Kakao und Kautschuk, aus seinen Kolo- nien zu beziehen, allerdings zu Preisen, die höher lagen als die Weltmarktpreise. In konstanten Francs verdoppelten sich zwischen 1928 und 1938 die Importe kolonialer Rohstoffe. Andererseits sanken die französischen Exporte in die Kolonien im gleichen Zeitraum um 35 Prozent. Die imperiale Autarkiepolitik begünstigte die Kolonien zulasten des französischen Mutterlandes. Durchweg kontrollierten europäische Firmen den Kolonialhandel. So lag der Handel mit afrikanischen Handelspflanzen unangefochten in den Händen großer Gesellschaften, die nicht selten auf der Grundlage monopolähnlicher Stellungen die Preise diktierten, zumal dort, wo Monokulturwirtschaft Abhängigkeit erzeugt hatte. Afrikanische Bauern waren daher gegenüber Preisentwicklungen auf dem Weltrohstoffmarkt hilflos.
 
Mitte der 1930er-Jahre machten Baumwolle, Wolle, Kautschuk, Mais, Palmöl, Kakao und Erdnüsse 25,14 Prozent der Exporte Afrikas aus, während 53,5 Prozent durch Gold, Diamanten und Kupfer erbracht wurden. Unter weltwirtschaftlichen Gesichtspunkten verdient hervorgehoben zu werden, dass Niederländisch-Indien (heute Indonesien) 1937/38 rund 35 Prozent der globalen Kautschukproduktion (440000 Tonnen) stellte und hier nur noch von Britisch-Malaya übertroffen wurde. Ölvorkommen hatten zur Gründung der »Royal Dutch Shell« geführt und 1938 zu einer Förderung von 7,4 Millionen Tonnen. Die niederländische Kolonie war der weltweit größte Produzent von Kopra und teilte sich mit Nigeria gleichsam die Kontrolle der weltweiten Zinnproduktion. Während sich Nigeria zum größten Exporteur von Palmöl und Erdnüssen entwickelte, figurierte die Goldküste (heute Ghana) auf der Grundlage von Privateigentum afrikanischer Pflanzer als größter Kakaoproduzent der Welt. Die weltwirtschaftliche Bedeutung Afrikas als Bergbaukontinent kommt besonders in der Kupferproduktion von Nordrhodesien (heute Sambia) zum Ausdruck, die von (1931) 16 000 Tonnen auf (1938) 255000 Tonnen anstieg. Zusammen mit Belgisch-Kongo formierte die britische Kolonie den größten Kupfergürtel der Welt. Gleichzeitig produzierte die belgische Kolonie (1939) 80 Prozent der weltweiten Uranvorkommen. In ihrer Gesamtheit lieferten die Kolonialreiche von 1936 bis 1938, im Unterschied zur späteren Entwicklung der Dritten Welt nach 1950, »nur« etwa 18 Prozent der von den Industriestaaten benötigten Rohstoffe, die jeweiligen Kolonien vermochten jedoch für einzelne Industriesektoren eine wichtige Rolle zu spielen.
 
Verschuldung und drückende Steuern
 
Die französischen Kolonialinvestitionen hatten 1914 mit 4,1 Milliarden Gold-Francs 9 Prozent der gesamten Auslandsinvestitionen bestritten, ihr Volumen vermehrte sich bis 1940 auf 293,5 Milliarden (Gold-Francs) und damit auf etwa 50 Prozent der Auslandsguthaben. Im Verlauf der Depression kam es zwischen 1931 und 1934 zu einem massiven Rückfluss von Privatkapital in das französische Mutterland. Zwischen 1935 und 1939 legten die französischen Kolonialregierungen Anleihen in Höhe von insgesamt 3388,9 Millionen Gold-Francs auf. Ein Teil der 1931 getätigten großen Anleihen diente dazu, die durch Handelskrise und reduzierte Zolleinnahmen entstandenen Budgetdefizite zu decken. Die öffentliche Hand übernahm die Finanzierung von Infrastrukturprojekten wie Eisenbahn- und Hafenbau mit dem Ziel, die koloniale Exportwirtschaft zu fördern, so beispielsweise, um in Niger ein Baumwollprojekt voranzutreiben. Von den Indochinaanleihen 1931 in Höhe von 1516 Millionen Francs floss etwa ein Drittel in umfangreiche agrarische Bewässerungsanlagen. Da umfängliche Kolonialanleihen auf dem Höhepunkt von lokalen Budgetkrisen platziert wurden, leiteten sie einen enormen Verschuldungsprozess ein. Sowohl in britischen als auch französischen Kolonien wurde die Verzinsung der Anleihen dem kolonialen Steuerzahler aufgebürdet. Da Investitionen welthandelsorientiert vor allem in den Exportsektor flossen, wurde die koloniale Wirtschaftsentwicklung einseitig auf den Außenhandel konzentriert.
 
Großbritannien ging 1932 zu einer Art Schutzzollsystem mit Empirepräferenzen über. Als das Mutterland 1931 den Goldstandard verließ, schlossen sich die afrikanischen Kolonien dem Sterlingblock an, wobei London die Wechselkurse fixierte. Schatzamt, Bank of England und die City verständigten sich auf eine orthodoxe Finanzpolitik; die Erfordernisse eines ausgeglichenen Budgets, der Sicherheit für britisches Kapital und der Tilgung öffentlicher Schulden hatten schließlich die Konsequenz, dass die Kolonien von fiskalischer Autonomie und politischer Unabhängigkeit gleich weit entfernt waren.
 
Die Weltwirtschaftskrise stellte das Prinzip der finanziellen Selbstgenügsamkeit der Kolonien infrage. Die Kolonialmächte wälzten daher die Lasten auf die Bauern in den Kolonien ab, indem sie fast durchweg wie beispielsweise in Nigeria, im Mandatsgebiet Togo und an der Elfenbeinküste die Kopfsteuer erhöhten oder aber in voller Höhe eintrieben. Die Belgier griffen im Kongo auf ein brutales Zwangswirtschaftssystem zurück. Im kolonialen Indochina wurde es immer problematischer, die rückläufigen Zolleinnahmen durch eine Erhöhung der indirekten Steuern auf die staatlichen Salz-, Alkohol- und Opiummonopole zu kompensieren. Hier führte die Agrar- und Hungerkrise zu einer Verarmung der Bauern bei gleichzeitiger Konzentration des Großgrundbesitzes, vor allem im Süden Vietnams. Die Weltwirtschaftskrise wurde also von einer sozialen Krise in den Kolonien begleitet. Einerseits reagierten die Bauern auf den Kursverfall mit einer Ausweitung der Produktion, andererseits vergrößerte sich die Kluft zwischen verarmten Kleinbauern und einer Schicht von Grundbesitzern und einer sich formierenden Handelsbourgeoisie. Obwohl das Wachstum der Bevölkerung stagnierte, trug die Wanderung verarmter Bauern zum Wachstum von Städten wie Dakar, Abidjan, Conakry oder Lagos und zur Bildung eines städtischen Subproletariats bei.
 
Gefürchtet: Koloniale Konkurrenz
 
Von kolonialen Industrialisierungsschüben kann in der Zwischenkriegszeit nicht gesprochen werden, einzige Ausnahme war Südafrika. Im Kontext der französischen Autarkiepolitik diskutierten zwar Technokraten, Generalgouverneure sowie Wirtschaftsexperten aus dem Kreis von Kolonialunternehmen »modernistische« Programme einer staatlich konzentrierten »Entwicklungspolitik« mit dem Ziel, in den Kolonien neben Infrastrukturprojekten gezielt Industrialisierungsprojekte zu verwirklichen und die Gebiete dem internationalen Handel zu öffnen. Unter dem Einfluss der Wirtschaftsinteressen des Mutterlandes, die eine koloniale Konkurrenz ablehnten, hielten die Regierungen einschließlich der Volksfront de facto an der Komplementärfunktion des kolonialen Wirtschaftsraumes fest, das heißt, an seiner auf das Mutterland bezogenen dienenden, »ergänzenden« Funktion. Bezüglich Indochinas überwog die Angst vor einer Bolschewisierung des Handwerks und der verarmten Bauern. Weder hatte sich eine Grundstoffindustrie noch eine Schwerindustrie entwickelt. In einigen Kolonien existierten lediglich handwerkliche Reparaturbetriebe.
 
Die eng mit Londons Banken und City liierten »Gentlemen«- Imperialisten standen organisierten Industrieinteressen distanziert gegenüber, koloniale Industrialisierungsansätze wurden weder blockiert noch sonderlich gefördert. Ende der 1930er-Jahre geriet die »indirekte Verwaltung« in die Krise, da wirtschaftlicher Fortschritt ausblieb und der soziale Wandel sich nicht im Zaum halten ließ. Im Sinne einer neuen, aktiven »Entwicklungsideologie« brach das »Koloniale Entwicklungs- und Wohlfahrtsgesetz« von 1940 mit dem Grundsatz der »Selbstgenügsamkeit«. Die staatliche Entwicklungspolitik nahm nicht nur die Förderung von wirtschaftlich produktiven Projekten ins Visier, sondern neben Sicherheitsfragen auch das Wohlfahrtsspektrum sowie das Thema der kolonialen Verschuldung. Ohne neue Akzente kolonialer Entwicklung stand nach Meinung der Initiatoren die Loyalität der Kolonialvölker infrage.
 
 
Die europäische Kolonialherrschaft bewirkte einen sozialen Wandel, der durch die Weltwirtschaftskrise noch verstärkt wurde. Je nach kolonialer Situation entstanden unterschiedliche neue Schichten und Gruppen der Lohnarbeiterschaft sowie neue, westlich orientierte Eliten. Die Zahl der Lohnarbeiter im Belgisch-Kongo stieg beispielsweise zwischen 1917 und 1939 von 47000 auf 530000 an. Bei einer Bevölkerung von 65 Millionen zählte Niederländisch-Indien 1937 etwa 1,6 Millionen Arbeiter. Trotz Defiziten und Versäumnissen in der Industrialisierung bildeten sich neue Berufe von Lohnarbeitern heraus: Hafenarbeiter, Arbeiter in Produktions- oder Reparaturwerkstätten, Arbeiter im Eisenbahnbau oder bei öffentlichen Arbeiten, Arbeiter in kleinen Textilunternehmen. Die soziale Differenzierung umfasst ferner die Angestellten europäischer Handelsfirmen und der Kolonialverwaltungen. Hinsichtlich Aktionen und Organisationen spielte Britisch-Westafrika eine Pionierrolle. Nachdem an der Goldküste bereits 1909 eine Gewerkschaft gegründet worden war, entstanden im nordrhodesischen Kupfergürtel informelle Zusammenschlüsse von Arbeitern. In den meisten Kolonien waren Arbeiterorganisationen illegal, sodass Streiks brutal niedergeschlagen wurden. Gewerkschaften wurden in Französisch-Afrika erst durch die Volksfront 1937 zugelassen.
 
Hervorstechendes Merkmal der sich formierenden neuen Eliten waren westliche Bildung, Sozialprestige dank wirtschaftlichem Erfolg und entsprechende Lebenshaltung. In Vietnam rekrutierte sich die lokale Bourgeoisie im Süden (Cochinchina) vor allem aus Anwälten, Ärzten und Ingenieuren, die sich teilweise auch im Handel betätigten und großenteils über beträchtlichen Grundbesitz verfügten. Der soziale Wandel beinhaltete nicht nur einen rapiden Übergang von der Selbstversorgungswirtschaft zur Geld- und Marktwirtschaft, sondern auch einen Individualisierungsprozess im Bereich des Bodens. In Westafrika entwickelte sich auf der Grundlage des von afrikanischen Bauern betriebenen Kakao-, Erdnuss- und Kaffeeanbaus eine selbstbewusste afrikanische Wirtschaftselite. An der Elfenbeinküste fügte eine reiche Pflanzerschicht Elemente einer Klassenstruktur in die traditionale Gesellschaft ein. In Uganda stammte die neue Wirtschaftselite aus dem Kreis der Baumwoll- und Kaffeepflanzer. Zu den Gewinnern des sozialen Differenzierungsprozesses zählten Agenten europäischer Firmen, Mittelsmänner, die im stark expandierenden Binnenhandel neue Möglichkeiten erblickten, ferner Unternehmer im Transport- und Exportsektor. Unterhalb der Angehörigen der freien Berufe — Anwälte, Ärzte, Lehrer — rangierte die Schicht eines afrikanischen Kleinbürgertums aus Technikern, Angestellten und unteren Verwaltungsbeamten, deren Aufstieg vom französischen Verwaltungssystem begünstigt wurde.
 
 Koloniale Emanzipationsbewegungen
 
Innenpolitische Schwächen im Verein mit der Wirtschaftskrise verhinderten in Frankreich zwischen 1919 und 1939 eine grundlegende Reform seines kolonialen Systems. Nachdem die Kolonien im Ersten Weltkrieg dem Mutterland mit 50000 bis 600000 Soldaten und 200000 Arbeitern Beistand geleistet hatten, suchten Politiker und Vertreter der »Kolonialpartei« mit der Parole »das größere Frankreich« bei der Bevölkerung ein imperiales Bewusstsein zu erzeugen. Die Propagandakampagne erreichte mit der Jahrhundertfeier der Eroberung Algeriens (1930) und der internationalen Kolonialausstellung 1931 in Vincennes ihren Höhepunkt. Erst das Aufkommen des deutschen und italienischen Faschismus mit entsprechenden Kolonialforderungen ließ bei einer schmalen Mehrheit der französischen Bevölkerung die Überzeugung reifen, die Sicherheit des Mutterlandes werde durch das Kolonialreich verbürgt. In den 1920er-Jahren hatten prominente Sozialisten und Mitglieder der Kolonialpartei eine Reform des Empire français durch die Gewährung des Dominionstatus für die großen Kolonien oder aber von Selbstregierung prognostiziert. Nachdem seit 1931 keine der großen Parteien, auch nicht die Kommunistische Partei, offiziell für Unabhängigkeit eingetreten war, stellte auch die von 1936 bis 1938 regierende Volksfront aus Sozialisten, Kommunisten und Radikalsozialisten das Kolonialreich keineswegs infrage, sondern begnügte sich mit dem Beginn von politischen und sozialen Reformen.
 
Das britische Empire erlebte in den 1930er-Jahren eine fortdauernde Vitalität der imperialen Mission besonders in Afrika. Weder in Westafrika noch in den asiatischen Territorien — Ceylon (Sri Lanka), Malaya (Malaysia), Singapur und Hongkong — deuteten Anzeichen auf Fortschritte in Richtung »Selbstregierung«. Als fundamentales Problem der imperialen Politik Großbritanniens stellte sich nicht die Auseinandersetzung mit dem entstehenden Nationalismus in den Kolonien heraus, sondern die Verteidigung des Empire gegen die Ansprüche Deutschlands, Italiens und Japans.
 
Indonesien: Islam und Marxismus
 
Anders als die Briten in Indien unterließen es die Niederländer, Perspektiven für eine zukünftige Unabhängigkeit ihres Kolonialbesitzes zu konzipieren. Auch die Einrichtung von Selbstverwaltungs- und Repräsentativkörperschaften wie des 1916 ins Leben gerufenen Volksraad konnte eine insgesamt repressive, auf Integration angelegte Politik nicht verdecken. Da die Stellen in der Wirtschaft von Europäern und Chinesen besetzt waren, verfügte die Mittelschicht über wenig Entfaltungsmöglichkeiten. 1940 kamen in der Verwaltung auf 3099 höhere Beamten lediglich 221 Indonesier. Als zentraler Motor der Nationalbewegung agierte ein erneuerter Islam; er brachte die erste nationale Massenbewegung Indonesiens hervor, die 1912 gegründete »Sarekat Islam« (»Islamische Vereinigung«) mit 1918 etwa 800000 Mitgliedern.
 
Der Konflikt zwischen Nationalisten und Marxisten führte 1921 zur Spaltung der auch im Volksraad vertretenen »Sarekat Islam«. Ein bewaffneter Aufstand, den die Kommunistische Partei 1925/26 auf Java und Sumatra initiiert hatte, veranlasste die Kolonialmacht, die »Sarekat Islam« zu zerschlagen. Fortan agierte die Kommunistische Partei im Untergrund. Entscheidend für die Zukunft wurde die 1927 von dem Lehrersohn und Ingenieur Sukarno gegründete »Partai Nasional Indonesia«. Sukarno vermochte 1928 eine Dachorganisation von Marxisten, Muslimen und Nationalisten auf der Basis eines vagen antiimperialistischen und antikapitalistischen Programms zustande zu bringen. Vor Kriegsausbruch hatten die Niederlande ihren Kredit verspielt, nachdem gemäßigte Gruppen vergebens in Abwesenheit des verhafteten Sukarno den Versuch unternommen hatten, die nationale Frage im Einklang mit der Kolonialmacht zu lösen.
 
In Vietnam reagierte Paris auf Streiks und soziale Unruhen, die 1930—32 das Kolonialsystem infrage stellten, mit unerbittlicher Repression. Die 1930 von Ho Chi Minh, dem Abkömmling einer Mandarinfamilie, gegründete Kommunistische Partei Vietnams, übernahm die Führung der Nationalbewegung. Politische Formationen der vietnamesischen Bourgeoisie, die 1937 etwa 10500 Familien zählte — in der Stadt lebende Grundbesitzer, Unternehmer, Ärzte, Anwälte — votierten auf der Grundlage einer französisch-vietnamesischen Zusammenarbeit für politische Reformen mit dem Ziel der wachsenden Partizipation. Auf Empfehlung des 7. Kominternkongresses setzte die Kommunistische Partei 1935 auf die Taktik einer demokratischen Einheitsfront mit Trotzkisten und Nationalisten. Bis zum Ende der Zwischenkriegszeit schlossen die französischen Regierungen eine Entkolonisierung Vietnams oder Indochinas grundsätzlich aus.
 
Afrika: Assimilatorischer und ethnischer Nationalismus
 
Im Unterschied zu Britisch-Westafrika, wo frühzeitig Kanäle der politischen Willensbildung geöffnet wurden, vermochte sich in den französischen Kolonien Afrikas der politische Emanzipationswille vor 1939 kaum zu artikulieren. Das den Maximen der kulturell-politischen Assimilation verpflichtete koloniale Schulsystem brachte einen Teil jener politischen Führer hervor, die, wie etwa Félix Houphouët-Boigny oder Léopold Sédar Senghor, nach 1945 politische Verantwortung übernehmen sollten. Im Interesse der Herrschaftsstabilisierung gelang es Frankreich, die emanzipatorische Wirkung der Schule unter Kontrolle zu halten und einen Großteil der Gebildeten in den Verwaltungsapparat aufzunehmen. Die Mehrheit dieser Gebildeten vertrat einen assimilatorischen Nationalismus, das heißt, sie reklamierten Emanzipation innerhalb des französischen Staatsverbandes. Ein politisches Leben entwickelte sich bis 1940 nur im Senegal und auch hier nur in den »Vier Gemeinden« Saint-Louis, Rufisque, Dakar und Gorée. Lokale Protestaktionen, das Vordringen des Islam in Französisch-Westafrika sowie Erfolge synkretistisch- religiöser Bewegungen an der Elfenbeinküste und in Äquatorialafrika können als Formen der Identitätssuche gewertet werden. Die französische Administration schlug jedoch sofort repressiv zu, sobald politische Tendenzen sichtbar wurden.
 
In Britisch-Westafrika propagierte eine schmale städtische Bildungselite — sie stammte vornehmlich aus Sierra Leone und Westindien und hatte häufig Missionsschulen absolviert — nach 1914 den Ausbau der Legislativräte: Vermehrung der afrikanischen Vertreter, Einführung des Wahlprinzips, Zulassung der Afrikaner zur Verwaltung. London ließ zu Anfang der 1920er-Jahre eine bescheidene Reform der Legislativräte zu, ohne dass ein den Reformen in Indien vergleichbarer Schritt in Richtung Selbstregierung erfolgt wäre. Im Unterschied zur bürgerlichen Elite, die in der Zwischenkriegszeit einen Reformkurs steuerte und das Kolonialsystem als solches kaum infrage stellte, radikalisierte eine neue nationale Bewegung nach 1934 auf breiter Agitationsbasis mit Unterstützung der Presse die Forderungen. Ein ethnischer Nationalismus begann sich zu entwickeln. In Nigeria und an der Goldküste entstanden politische Parteien, die über die Eliteschicht hinaus auch Massen zu mobilisieren vermochten, insbesondere in Nigeria. Afroamerikaner und Westinder initiierten mehrere panafrikanische Kongresse zwischen 1919 und 1929, die 1944 schließlich in die »Pan-African Federation« münden sollten. Die vage nationale Emanzipationsideologie dieser bürgerlichen Bewegung mit leicht sozialistischem Einschlag kontrastierte allerdings mit den assimilatorischen Einstellungen der frankophonen Elite.
 
Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs schien die Fortdauer der Kolonialherrschaft in Afrika und Asien durch ein halbes Dutzend vorwiegend europäischer Staaten als unabänderliches Kennzeichen des internationalen Systems gesichert zu sein. Noch verfügten die Mutterländer über die finanziellen und militärischen Mittel, die wirtschaftliche Entwicklung der Kolonien im Sinne der Komplementärfunktion zu kontrollieren und den Kolonialapparat gegen den vermeintlich schwachen afrikanisch-asiatischen Nationalismus zu verteidigen.
 
Prof. Dr. Dieter Brötel
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Entkolonialisierung: Das Ende der Kolonialherrschaft und die Bewegung der Blockfreien
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Kolonialismus: Koloniale Abhängigkeiten zwischen den Kriegen
 
 
Ageron, Charles-Robert: La décolonisation française. Paris 21994.
 
Histoire de la France coloniale, Beiträge von Jean Meyer u. a. 2 Bände. Paris 1990-91.
 Marseille, Jacques: Empire colonial et capitalisme français. Histoire d'un divorce. Neuausgabe Paris 1989.
 Michel, Marc: Décolonisations et émergence du tiers monde. Paris 1993.

Universal-Lexikon. 2012.

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